Auld Reekie - Die Alte Verrauchte
Wir schreiben das Jahr des Herrn 1659. Der dritte Monat ist angebrochen und vom Frühling ist noch wenig zu sehen. Ein Wechsel aus Schneetreiben, Regen und ein heftiger frischer Wind haben uns auf der Reise nach Edinburgh begleitet.
Oliver Cromwell ist im letzten September (1658) verstorben. Sein Sohn Richard Cromwell, der nach dem Tod des Vaters zum Lordprotektor ausgerufen wurde, regiert – noch. Aber er schwächelt, denn er hat nicht den Willen und die Kraft seines Vaters. Die Wirtschaft Schottlands, die nach Bürgerkriegen und Aufständen, am Boden lag, erlebt gerade wieder ein wenig Aufschwung. Der Handel blüht. Und wir sind als Händler von Leinen und Gewürzen auf dem Weg nach Edinburgh, um unseren befreundeten Kaufmann Thomas Galdstone zu besuchen.
Den Palace of Holyrood im Rücken, kommen wir durch das Städtchen Canongate, das eine eher ländliche Atmosphäre hat. Was wir natürlich noch nicht wissen können ist, dass Canongate in 200 Jahren nach Edinburgh eingemeindet wird. Noch aber kommen wir am Rat- und Zollhaus des eigenständigen Örtchens am ‚Canongate Tollbooth‘ vorbei. Wir beobachten wie Passanten voller Verachtung; und wie wir bemerken sehr gekonnt, gegen die Tür des ungeliebten Gebäudes, das auch das Gefängnis beherbergt, spucken.
Dieser Brauch, der nicht nur am Canongate Tollbooth zu sehen ist, könnte auch Edinburghs Besuchern des 20. Jahrhundert erklären, warum Passanten immer noch auf ein im Straßenpflaster eingelassenes Herz, dem ‚Heart of Midlothian‘, spucken. Was modernen Menschen Glück bringen soll, könnte früher schlichte Verachtung gewesen sein, da auf dem bespuckten Stück Straße ehemals das alte Tollbooth Edinburghs stand.
Schon bevor wir Edinburgh durch das östliche Stadttor Netherbow Gate betreten, schlägt uns der Gestank von 25.000 Menschen, die auf engstem Raum zusammenleben, und der Rauch ihrer unzähligen Kaminschlote, entgegen der der Stadt den Spitznamen ‚Auld Reekie‘ ‚Die alte Verräucherte‘ eingebracht hat.
Edinburgh ist L-Förmig von Stadtmauern umgeben, die phasenweise von 1450 bis 1636 zum Schutz erbaut wurden. Eine Seite wird durch Edinburgh Castle Hill und eine weitere durch den Nor‘ Loch, der 1460 von King James III auf einem Stück Marchland geflutet wurde, geschützt.
Nur in den engen Stadtmauern ist man sicher. Da eine Erweiterung der Stadtmauern teuer und durch das Gelände zwischen den Hügeln Edinburghs nicht möglich ist, stapeln sich die Menschen wortwörtlich auf engstem Raum. Die Häuser zu beiden Seiten der High Street türmen sich bis zu 14 Stockwerke hoch, die nur durch schmale Gassen ‚Closes‘, die in die Hinterhöfe führen, getrennt sind. Die Closes sind so schmal, dass sich die Bewohner gegenüberliegender Häuser leicht durch die Fenster die Hand schütteln könnten. An einigen Stellen gehen von der Hauptstraße Gassen ‚Wynds‘ ab, die eine Verbindung zu weiteren Straßen darstellen.
Straßennamen und Hausnummern suchte man vergebens; wie auch in diesem Gewirr von höhen Gebäuden. Sieht man einmal von den Bezeichnungen der High Street, dem Lawnmarket (auch land market) und der Castle Hill Street ab, die schon immer die langegezogene Hauptstraße zum Schloss hin bilden.
Man hat uns gesagt, dass wir am Mercat Cross ‚Cadies‘ finden, die sich als Laufburschen, Gepäckträger und Fremdenführer verdingen. Cadies gehören zu den ehrenwerten Berufsständen, in denen sich auch die einfachen Bürger verdingen können.
Die Bezeichnung ‚Caddy‘ wird die Jahrhunderte überdauern und in Zukunft die Burschen bezeichnen, die beim Golfspielen die Tasche tragen, bei der Schlägerauswahl beraten und beim Lesen des Grüns helfen.
Von unserem Cadie John werden wir nicht nur zielsicher zum Haus unsere Freundes geführt, er weiß auch zu berichten, dass wir gerade zu rechten Zeit in der Stadt angekommen sind: Eine Verbrennung von gleich 5 Hexen auf dem Castle Hill steht an!
Die Hexen wurden des Todes durch Verbrennen angeklagt, da sie mit dem Teufel getanzt hatten. Ihre Schuld wurde bereits beim ‚witch dunking‘ im Nor‘ Loch rechtmäßig geprüft. Als gute Christen hat man jedoch beschlossen Gnade walten zu lassen und sie zuerst zu Strangulieren bevor man ihre sterblichen Hüllen dem Feuer überlassen wird.
Mit dem neusten Edinburgher Klatsch und Tratsch ausgestattet, erreichen wir Gladstone’s Land. ‚Land‘ ist die schottische Bezeichnung für einen Wohnblock, Haus oder Grundstück. Thomas mehrstöckiges Haus beherbergt, wie so viele Häuser in Edinburgh, im unteren Stockwerk zwei Geschäfte und im Keller hinten hinaus eine Taverne. In einer der Wohnungen des Hauses, lebt Thomas mit seiner Familie. Die anderen hat er an Mieter aus verschiedenen sozialen Schichten vermietet, wie es allgemeine Praxis in Edinburgh ist. Dabei wohnen unter dem Dach, die Ärmsten und im Mittelteil die finanziell besser gestellten Bewohner. Thomas Wohnung ist über eine Außentreppe direkt von der Straße aus zu erreichen.
Die Gladstone‘s beschäftigten eine Magd, die Haushaltshilfe und Babysitterin zugleich ist. Und so begrüßt uns gleich auch der jüngste Spross des Hauses Gladstone, der sich in einem erstaunlichen Holzgestell, einem Baby Walker, unter Aufsicht der Magd durch die Küche bewegt. Die Küche ist der Dreh und Angelpunkt im Leben der Kinder und hier nächtigen sie auch.
Die Küche ist ebenfalls das Reich der Hausangestellten, die in einem der modernen, in die Wand eingelassenen Klappbetten schlafen. Fließendes Wasser gibt es allerdings noch nicht und auch ein Abfluss ist nicht vorhanden. Hygiene existiert noch nicht, obwohl auch schon den Menschen unserer Zeit klar ist, dass es nicht gut für die eigene Gesundheit sein kann, in einer verräucherten, stickigen, kaum jemals von der Sonne gestreichelten Stadt zu leben.
Und dennoch ist von Thomas fünf Kindern nur eines frühzeitig gestorben, was für eine generell gute Haushaltsführung spricht.
Die Magd hat bereits ein stärkendes Mahl zubereitet. Der Luxus einer Angestellten bewahrt den Hausherren und seine Gäste davor, die Backwaren und zubereitete Speisen, die man überall kaufen kann, genießen zu müssen. Man tut so ziemlich alles um aus Weniger - Mehr zu machen und so sind z.B. Holzspäne im Brot eine populäre Zutat.
Wir speisen im Thomas Wohnraum, der zugleich Schlafzimmer, Empfangsraum und Esszimmer ist. Auch der gute verschlossene, mit wertvollem Inhalt gefüllte, Gewürzschrank hat hier seinen Platz. Die Decke und die blanken Wände sind kunstvoll mit floralen Bildern bemalt, die zurzeit überall groß in Mode sind. Die obere Hälfte der Fenster ist mit Glas ausgestattet, die untere Hälfte nur mit Holzläden, denn Glas ist ein teurer Luxus. Die Holzverschläge sind wegen der kühlen Witterung geschlossen und in die Wohnung dringt nur trübes Licht.
Nach der reichlichen Mahlzeit, machen wir uns auf den Weg um Geschäftspartner von Thomas in verschiedenen Tavernen zu treffen. Es ist spät geworden, als wir wieder, vom vielen Ale beschwingt, den Heimweg antreten. Es ist bereits nach zehn Uhr abends und die Stadttore sind geschlossen. Thomas drängt zum zügigen Voranschreiten. Bevor wir noch eine Erklärung für diese Eile einholen können, hören wir über hoch über unseren Köpfen, aus einem der oberen Stockwerke eines Hauses den lauten Ausruf: ‚GardyLooooo!
Thomas reagiert blitzschnell, versetzt uns einen kräftigen Schubs, der uns ein Stück weit nach vorne taumeln lässt, springt selbst ein Stück weit zurück und brüllt ein ‚Hold hands‘ als Antwort in die Höhe. Einen Herzschlaglang tritt Stille ein, dann platscht mit einem satten schmatzenden und spritzenden Aufschlag eine Ladung ‚Nastyness‘ neben uns auf dem Pflaster auf.
Der Gestank in der schmalen Gasse verstärkt sich um ein vielfaches und nachdem Thomas sich kurz versichert hat, das wir nicht von dem ‚Unaussprechlichen‘ getroffen worden sind, was von oben kam, dann hetzen wir weiter in die Sicherheit von Thomas Haus.
(Um das Auslehren der Nachttöpfe und Unrat, aus den Fenstern auf die Straße zu regulieren, wurde erlassen, dass sie dies nur in der Zeit zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr morgens gemacht werden dürfte. Während dieser Zeit sind die Stadttore geschlossen und weniger Menschen auf den Gassen unterwegs. Da alles Französische in Mode ist, benutzt man den Ausruf ‚gardez l’eau‘, was in etwa ‚Achtung Wasser!‘ bedeutet. Was schon recht frech war, bedenkt man, was da so alles von oben kommen kann!)
Als wir am Morgen unseres Abreisetages wieder auf die Straße traten stattete uns Thomas mit Holzschuhen, die durch einen Eisenring erhöht waren, und einem Duftsäckchen mit Lavendel aus. Die Schuhe dienten dafür, sicher über den Unrat zu gelangen, der die Straßen zierte und der Lavendel, dich vor die Nase gehalten, ermöglichte das Frühstück bei uns zu behalten, während wir durch die stinkenden Straßen liefen.
Arbeiter waren bereits damit beschäftigt den Unrat grob von den Straßen zu entfernen, auf dass er wie Thomas uns erklärte in den Nor‘ Loch transportiert würde, der auch gleichzeitig als Trinkwasserreservat für die Stadt gedacht sei.
Wo so viele Menschen dich aufeinander gedrängt leben, wo es keine Frischwasserzufuhr und keine Abwasserentsorgung gibt und Unrat auf die Straße gekippt wird, sind natürlich auch Ratten nicht fern. Diese Nager und unhygienische Verhältnisse, schlechte Luft und praktisch kein Licht, bedingt durch die enge Bauweise der Häuser, bieten beste Voraussetzungen für eine Vielzahl von Krankheiten und Todesfällen in der Stadt. Aber nicht nur das fordert zahllose Opfer.
In den Morgenstunden war ein Haus zusammengestürzt. Katastrophen diese Art sind jedoch an der Tagesordnung, wie uns Thomas versicherte. Schlechte Qualität und billige Bauweise der aus Platznot in die Höhe gebauten Häuser und Brände, die schnell um sich greifen, fordern fast täglich ihre Opfer.
In den folgenden Tagen wohnten wir der Hexenverbrennung bei, die ein solches Spektakel war, das es Massen an Menschen anzog und der Stadt für eine Weile ausreichend Gesprächsstoff bot. Wir gingen unseren Geschäften nach und vergnügten uns ein wenig mit dem, was eine Stadt so zu bieten hat. Ebenso lernten wir geschickt den Ruf ‚Gardyloo‘ zu deuten und dem, was ihm unweigerlich folgte, auszuweichen.
Als wir das Stadttor endlich hinter uns ließen und einen letzten Blick auf den beeindruckenden Castle Hill werfen konnten, waren wir einerseits froh so viele neue Eindrücke gewonnen zu haben, andererseits aber auch glücklich dieser Stadt wieder gesund entronnen zu sein.
(Text: AS, Bilder selbst)